Interview – Prof. Dr. Christoph Möller
So wirkt Corona auf Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche wachsen momentan inmitten einer Krise auf – Corona ist auch eine psychische Ausnahmesituation. Wir sprachen mit Prof. Dr. med. Christoph Möller, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am „Kinderkrankenhaus Auf der Bult“ in Hannover über die aktuelle Situation.
Wie belastend ist die Corona-Krise für Kinder und Jugendliche?
Zuerst muss man sagen, dass viele Kinder und Jugendliche trotz der Krise etwas Positives erleben – nämlich eine Entschleunigung des Familienlebens mit Eltern, die im Homeoffice arbeiten und Kindern, die ebenfalls zu Hause sind oder waren. Schulbesuche oder der Kindergarten fielen bis zu den Sommerferien nahezu aus. Außentermine, oft Stressfaktoren besonders für Kinder, fallen ebenso weg. Daraus ergeben sich neue Begegnungen für Eltern und Kinder. Das ist eine Chance: Denn mehr Zeit zu haben als sonst, das wirkt stabilisierend. Das ist der Teil, wo Kinder nicht schlecht durch die Krise kommen.
Und die andere Seite der Medaille, wie beeinflusst sie den Alltag einer Familie in der Corona-Zeit?
Schwierig ist, dass bisher bekannte und erlernte Strukturen in Familien plötzlich wegfallen. Dabei ist es wichtig, den Tag ganz klar zu strukturieren. Das fängt beim gemeinsamen Frühstück an, gefolgt von der „Schulzeit“ mit Hausaufgaben und entsprechend „Homeoffice“ für die Eltern. Ein gemeinsames Mittagessen ist ungewohnt, aber ein wichtiger Faktor fürs Familienleben, wo sich jeder einbringen kann. Es folgt eine weitere Lernsequenz sowie viel Bewegung am Nachmittag. Auch der Nachmittag muss durchstrukturiert werden. Besonders kleine Kinder brauchen Absprachen, die verbindlich sind, und Eltern auch Zeit für sich, um abzuschalten. Das sollte ebenfalls im Tagesablauf eine Rolle spielen.
Aus der Krise ergeben sich neue Begegnungen für Eltern und Kinder –
das ist eine Chance ...
Welche Rolle spielt das Thema Bewegung in der Coronazeit?
Viel Bewegung in Bezug auf Alter und Bewegungsdrang ist für die gesamte Familie gerade jetzt im Spätsommer eine große gesundheitliche Chance. Wir haben gerade Superwetter mit viel Sonnenschein – also beste Bedingungen, um Bewegungseinheiten in den Tagesablauf zu integrieren. Das können lange Spaziergänge im Wald sein, Entdeckungstouren am See oder im Stadtpark, wo es viel zu erforschen und zu sehen gibt. Jetzt ist die Zeit, um draußen zu sein, denn viel Tageslicht und frische Luft wirken sich vorbeugend auf den Blues oder Depressionen aus. Mittlerweile ist es ja auch wieder erlaubt, sich mit mehreren Menschen zu verabreden und zu treffen, das ist schon lockerer geworden und wirkt sich ebenfalls positiv aus.
Wie wichtig sind regelmäßige Schulbesuche?
Wenn die Schule wegfällt, kann das zum Beispiel bei einer Schulangst entlastend sein. Allerdings sind Zeiten, in denen Schulbesuche sehr reduziert sind, meist eine große familiäre und gesellschaftliche Herausforderung. Gerade bei der Bildung braucht es jetzt ganz viel Unterstützung. In „Bildungshaushalten“ sind Kinder und Jugendliche weniger gefährdet. Hier springen die Eltern ein und bilden ihre Kinder weiter. Wo das nicht klappt, ist Unterstützung zwingend erforderlich. Bildungsferne Schichten bekommen es meist nicht ohne äußere Begleitung und Struktur geregelt, sodass die Bildungsschere sich immer mehr öffnet. Kinder, die es hier schwer haben, werden abgehängt. Aus meiner Sicht muss da ganz klar mehr getan werden. Es ist eine Riesen-Herausforderung, die Bildungsproblematik nicht zu verstärken und Kinder und Jugendliche zu unterstützen, damit Chancengleichheit gewahrt ist.
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Manchmal ist die Schule also ein Befreiungsschlag, wenn es in der Familie nicht so rosig läuft?
Genau, es gibt Eltern, die ihren Kindern nicht geben können, was sie brauchen. Missbrauch ist ein weiteres Stichwort. Kita, Kindergarten und Schule sind auch Kontrollinstanzen. Wenn sie wegfallen, geht es diesen Kindern schlecht und niemand bekommt mit, wenn etwas schief läuft. Deutschland stellt gerade auf digitale Schule um, wir wissen aber auch, wenn Kinder so viel Zeit haben, ist es besonders schwierig den Verlockungen digitaler Medien zu widerstehen. Der Konsum nimmt dann eher zu. Mit Hauruck die digitale Schule zu fördern, ersetzt nicht, dass Lehrer und Jugendhilfen weiterhin mit persönlichem Kontakt bereitstehen. Daher muss eine „aufsuchende Bildungsarbeit“ weiter stattfinden und nicht wieder ausgesetzt werden. Gerade bildungsferne Familien brauchen diese Form der Begleitung bei der Bildung ihrer Kinder. Das ist eine wirklich große Herausforderung.
Besonders kleine Kinder brauchen Absprachen, die verbindlich sind und Eltern auch Zeit für sich, um abzuschalten ...
Was hilft gegen zu viel Medienkonsum, haben Sie einfache Tipps?
Es ist wichtig, dass es bei klarer Absprache und Medienkontrolle, die vorher schon bestand, bleibt. Alternativen sollten gefördert werden. Zeit gemeinsam zu gestalten, kann sogar sehr lehrreich sein. Was ist ökologische, was konventionelle Landwirtschaft – könnte zum Beispiel bei der Essenzubereitung besprochen werden. Der schulische Aspekt und ein gemeinsames Erlebnis sind das A und O. Kleine Kinder können beim Schnippeln in der Küche ihre Feinmotorik üben, die Jugendlichen übernehmen die Verantwortung für die Zubereitung einer Speise – das klappt auch gut beim Backen und Kochen.
Wie bekommt man das alles organisiert?
Dafür eignen sich Familienkonferenzen, in denen eine gemeinsame Struktur und klare Verabredungen getroffen, Wünsche gehört und altersspezifisch berücksichtigt werden. Machen Sie einen Wochenplan mit den Highlights der jeweiligen Tage.
Und wenn Konflikte auftauchen, wie löst man sie?
Bevor Konfliktsituationen eskalieren, erstmal rausgehen und sich später verabreden (15-20 min.), um sie zu klären. „Das Eisen schmieden, wenn es kalt ist“, ist eine gute Empfehlung des Psychologen Haim Omer. Erst wenn die Lage weniger aufgeheizt ist, lassen sich leichter Lösungen finden und Absprachen treffen.
Konfliktstoff ergibt sich auch dadurch, dass Jugendliche, die gerade ausgezogen sind, jetzt wieder bei ihren Eltern wohnen. Auch hier helfen klare Absprachen auf Augenhöhe, den Alltag zu strukturieren. Das ist sehr wichtig, denn es ist viel weggefallen: Abifeiern, Auslandsaufenthalte und andere eigenständige Aktivitäten. Es braucht Zeit sich anzupassen, um damit umzugehen und die Enttäuschungen zu verarbeiten. Wichtig: Eltern sollten darüber sprechen, die Krise als Chance zu begreifen.
Jugendliche stecken in der Pubertät und leiden wahrscheinlich auch unter den Kontaktbeschränkungen?
Das stimmt, und das macht es schwierig. Jugendliche können ihr Bedürfnis nach Nähe – Körperlichkeit und Berührungen zu anderen nicht ausleben. Sie wollen sich ausprobieren, wollen leben, Erfahrungen machen. Mit Jugendlichen darüber zu sprechen, auch eigene Empfindungen zu nennen, ist jetzt ganz wichtig. Wenn Eltern, wie es gerade öfter passiert, selbst unter Zukunftsängsten leiden, weil die Existenz von heute auf morgen bedroht ist, sollte das ebenfalls Thema in der Familie sein. Kinder und Jugendliche nehmen Unausgesprochenes wahr.
Mit Jugendlichen darüber zu sprechen, auch eigene Empfindungen zu nennen, ist jetzt ganz wichtig ...
Erwachsene tragen Masken und verbergen vor Kindern das Gesicht – wie kommt das an?
Maskentragen entfremdet, denn Kinder lesen viel aus der Mimik heraus. Auch Verbote und Beschränkungen, wie die Großeltern nicht mehr besuchen zu dürfen, können dazu führen, dass sie sich von dem fehlenden Familienteil emotional entkoppeln. Darüber reden und sich abgleichen hilft. Alle Beteiligten sollten wissen: Nach jeder Krise geht es weiter, die Welt bleibt nicht stehen, und das wird auch hier wieder so sein. Ich rate Erwachsenen insbesondere dazu, sich nicht durch die Panik über die Medien anstecken zu lassen, sich nicht in einer Angsttrance zu verlieren, sondern eine distanzierte Sicht einzunehmen, sich erst zu sortieren und dann zu entscheiden. Gerade in dieser Krise gibt es jetzt Zeit, die sonst nicht da ist und die wir positiv gestalten und nutzen können.
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Buchcover von Prof. Dr. med. Christoph Möller
Der Titel des Buchs
„Jugend sucht“ von Prof. Dr. med. Christoph Möller ist doppeldeutig zu verstehen. Es ist ein Präventionsbuch, in dem es um Resilienz (psychische Widerstandskraft), Bildungs- und Medienkompetenz, erwachsene Vorbilder und mehr geht – Themen, die wir eben schon angesprochen haben, die im Buch aber ausführlicher dargestellt sind. In zwölf Interviews berichten ehemals abhängige Jugendliche auch über die Hintergründe ihrer Abhängigkeit und ihren Weg aus der Sucht.