Interview mit Dr. med. Georg Bollig
Letzte Hilfe – offen übers Sterben reden
Heute ist ein guter Tag, über das Sterben zu reden und darüber, wie pflegende Angehörige „Letzte Hilfe“ leisten können, findet Dr. med. Georg Bollig. Er ist leitender Oberarzt der Palliativmedizin in der Abteilung für Anästhesie, Intensiv-, Palliativmedizin und Schmerztherapie am Helios Klinikum Schleswig. Von ihm stammt die Idee, analog zur ersten Hilfe auch Letzte-Hilfe-Kurse anzubieten und zwar für jeden, auch für pflegende Angehörige.
Dr. med. Georg Bollig
Seit 2015 haben sich die Kurse in 20 Ländern etabliert, in Brasilien, Kanada, Australien und eben auch Deutschland. Die energie-BKK unterstützt dieses Angebot. Es soll Bürgerinnen und Bürger befähigen, an der allgemeinen Palliativversorgung bedürftiger Menschen beherzt mitzuwirken. Die Pflegekasse der energie-BKK trägt komplett die Kosten des Kurses. Wir haben Dr. med. Georg Bollig gefragt, warum es sinnvoll ist, sich genau jetzt mit dem „Kleinen 1×1 der Sterbebegleitung“ zu beschäftigen und stellen den Kurs im Gespräch mit ihm vor.
... viele Menschen machen es mit dem Einander-beschützen-wollen nur schlimmer, statt besser.
Wie kamen Sie auf die Idee „Letzte Hilfe“ für Angehörige anzubieten?
Das ist in meiner Person begründet, denn ich habe in meinem Leben beruflich bisher kaum etwas anderes gemacht, als Menschen zu helfen, bei den Maltesern im Rettungsdienst, in der Pflege im Krankenhaus. Für mich macht es kaum einen Unterschied erste oder letzte Hilfe zu leisten. Also entwickelte ich das Kursprogramm Letzte Hilfe, denn es macht Sinn, sich auf ein gutes Ende des Lebens vorzubereiten. Möglichst viele Bürgerinnen und Bürger sollten wissen, was im Sterbeprozess passiert, was die Begleitung eines sterbenden Menschen durch sie selber bedeuten kann und welche Chancen der Begegnung dieser besonderen Lebenszeit innewohnen. Das erfahren sie im Kurs.
Wann ist der richtige Zeitpunkt im Leben, an dem Kurs teilzunehmen?
Jetzt, sofort, immer, heute — wer einen Erste-Hilfe-Kurs vor einer Verletzung gemacht hat, weiß sich besser zu helfen. Bei der letzten Hilfe funktioniert das ebenso, sie geht jeden etwas an und jeder kann mitmachen, auch Kinder. Diese haben sogar richtig Lust dazu, so meine Erfahrung. Es geht in den Kursen um gelebte und praktische Mitmenschlichkeit. Dann ist alles viel ehrlicher und in gewisser Weise schöner. Es bedeutet vom Tod und Sterben nicht fernzubleiben, sondern bewusst teilzuhaben (im Sinne von du darfst dabei sein und Abschied nehmen). Hier sind wir bisher gesellschaftlich „falsch programmiert“ und viele Menschen machen es mit dem Einander-beschützen-Wollen nur schlimmer, statt besser. Ein offener Umgang ist ein wichtiger Punkt.
Ich sehe viele Sterbende, ohne dass sie groß leiden. Es ist nicht immer schlimm, der Großteil stirbt relativ entspannt. Das ist normal.
Die meisten Sterbenden haben irgendwann auch genug und sind des Lebens satt. Ich höre oft, jetzt ist es gut. Die Kommunikation darüber ist wichtig, denn Reden hilft. Das Sterben zu verschweigen, macht keinen Sinn und belastet alle. Besser ist es, frühzeitig einander einzubeziehen, nichts zu verheimlichen, Gefühle zu zeigen und offen zu sein. Insbesondere Kinder haben eine Antenne dafür und trösten gerne Andere.
Bereitet es auch auf den Umgang mit dem eigenen Tod vor?
Ich würde schon sagen, dass der Kurs eine Reflektionsbühne ist. Die Kursteilnehmer lernen, zum Plan A noch einen Plan B zu machen. Die meisten Menschen wollen zu Hause sterben und versprechen einander, nichts anderes zuzulassen. Ich rate, lieber flexibel zu bleiben, da Krankenhaus oder Hospiz in manchen Situationen besser für die palliative Versorgung geeignet sind.
Was bekommen Sie zurückgespiegelt von den Kursteilnehmern?
Auf unserer Website gibt es dazu ein kurzes Video, in dem eine Kursteilnehmerin sehr einfühlsam ihre Erfahrungen mit dem Kurs beschreibt. Unsere älteste Teilnehmerin war übrigens 100 Jahre alt. Ihre Freunde würden alle sterben, sie müsse helfen, war ihre Motivation. Aus unserer aktuellen Studie zu den Kursen mit über 6.000 Teilnehmern geht hervor, dass derzeit 88 % Frauen mittleren Alters (und möglicherweise oft in pflegender Rolle) die Kurse besuchen. Ich appelliere an die Männer, ebenfalls teilzunehmen. Das Thema Sterben ist auch Männersache! Es geht uns alle an! Die Studie zeigt, dass die Kurse für diverse ethnische Hintergründe geeignet sind und dass sich die Kursteilnehmer sehr ermutigt fühlen, über das Tabuthema – das Ende des Lebens – zu reden.
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Inwieweit ist die energie-BKK als Krankenkasse beteiligt?
Die große Ehre gebührt Torsten Dette (Vorstand der energie-BKK), der die Tragweite des Themas erkannt hat, noch bevor wir auf die Idee kamen, Krankenkassen zu kontaktieren. Es ist seinem tollen Engagement zu verdanken, dass es so gut etabliert werden konnte.
Es ist Sommer, wer will da schon ans Sterben denken?
Es ist immer die richtige Zeit. Wie beim Erste-Hilfe-Kurs gilt auch hier: Schieben Sie den Letze-Hilfe-Kurs nicht auf die lange Bank.
Vielen Dank, dass Sie dem Thema hier Öffentlichkeit schenken.
Danke für das Gespräch!