Gesundheitsvorsorge von klein auf
Kinder wollen Bewegung
Bewegung ist der Schlüssel zur Gesundheit – wie viel Bewegung brauchen Kinder und wie kann sie gefördert werden? Peter Gerfen ist ehemaliger Torschützenkönig der Handballbundesliga und heute ein gefragter Fitness-Trainer, Dozent und Buchautor. Mit dem ganzheitlichen Konzept „Bewegung!“ will er Menschen fitter und gesünder machen. Wir sprachen mit ihm über das interessante Thema für Kinder und Eltern.
Viele Kinder bewegen sich zu wenig. Woran liegt das?
Ablenkungen durch Smartphone, Tablet, TV und Co. spielen eine große Rolle. Ein Vergleich mit „früher“ verdeutlicht den Unterschied: Früher waren Kinder einfach Kinder. Heute werden sie von Erwachsenen vereinnahmt. Ein Masterplan soll sie zu leistungsfähigen Erwachsenen werden lassen. Vor 50 Jahren hatten Kinder auch schon „Termine“ und ausgefüllte Tagesabläufe. Sie waren aber in ihrem Handeln selbstbestimmter. Heute bestimmen oft die Eltern, die als Chauffeure, Mentoren und Motivatoren natürlich immer nur das Beste für Ihre Kinder wollen. Sie fahren den Nachwuchs zu „Inseln“, die Wohnung, Schule, Sportverein und Freunde heißen. Leider erzeugt das viel Druck und (Alltags-)Bewegung bleibt dabei allzu oft auf der Strecke. Wir machten uns früher als Kinder unsere Umgebung in sogenannten konzentrischen Kreisen vertraut, angefangen beim sicheren Hafen Elternhaus, der unmittelbaren Umgebung bis hin zur Erkundung der gesamten Ortschaft. Die Wegstrecke, die wir als Kinder dabei zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegten, war groß. Die Natur, draußen, das war unsere Spielwiese. Heute spielen kaum noch Kinder in der Natur, bestenfalls beaufsichtigt auf dem Kinderspielplatz oder im Park nebenan. Als Grund wird oftmals steigendes Verkehrsaufkommen gesehen. Dabei ist im Vergleich von 1980 zu 2018 ein Rückgang von 75 % bei tödlichen Verkehrsunfällen zu verzeichnen.
Fairness, Kämpfergeist, Durchhaltevermögen, Sozialverhalten, Konzentration, Wohlbefinden und Entspannung entwickeln sich beim Sport.
Welche Vorteile hat regelmäßiger Sport für Kinder?
Sport, Bewegung und Gemeinschaft wirken sich positiv auf die Physis, Psyche und auf der sozialen Ebene aus. Neue Bewegungserfahrungen, verstärkt in einer Gruppe, können Kinder und Jugendliche beflügeln und sogar den Charakter prägen. So entwickeln sich Fairness, Kämpfergeist, Durchhaltevermögen, Überwindung, Sozialverhalten, Konzentration, Wohlbefinden, Entspannung sowie Verständnis. All das kann durch Sport gefördert werden. Es ist also von großer Bedeutung, dass Eltern ihren Kindern Bewegungsvielfalt ermöglichen und bis zu einem Alter fördern, in dem Kinder von sich aus entscheiden müssen, ob sie zum Training gehen. Bis weit in die Jugend hinein haben Eltern somit einen großen Einfluss auf die Möglichkeiten, die sie ihren Kindern bieten.
Vor 50 Jahren hatten Kinder auch schon „Termine“ und ausgefüllte Tagesabläufe.
Welche Folgen hat Bewegungsmangel?
Bewegungsmangel und Fehlernährung bei Kindern können verheerende Folgen für das Heranwachsen und für das Leben im Erwachsenenalter nach sich ziehen. Der Bewegungsapparat, der Stoffwechsel, das Herz-Kreislaufsystem und das Gehirn können betroffen sein.
Schmerzhafte Fehlhaltungen, vorzeitige Alterungsprozesse wie Arthrose, Übergewicht, Bluthochdruck, Veränderungen des Herzmuskels sind die Folgen, um nur einige Risiken zu nennen. Eine 2014 publizierte Studie bestätigt das. Sie hat bei adipösen Kindern im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern eine Vergrößerung der Herzhöhlen mit nachfolgenden Funktionsstörungen des Herzmuskels nachgewiesen.
Bewegung fördert doch auch schnelles Denken und gute Laune, oder?
Ja, körperliche Bewegung hat eine äußerst positive Wirkung auf den gesamten Körper und eben auch auf Gehirn und Psyche. Sie stimuliert die Neubildung von Nervenzellen und Synapsen. Das fördert die Gedächtnisleistung und Konzentration. Außerdem steigt auch der Serotoninspiegel im Gehirn an. Dieser Gute-Laune-Botenstoff sorgt für Optimismus, Freude und Ausgeglichenheit. Ein Mangel an Serotonin wird hingegen für aggressives Verhalten und Depressionen verantwortlich gemacht. Regelmäßige Bewegung hat folglich positive Effekte auf das psychische Wohlbefinden und das Sozialverhalten von Kindern.
©Anja Kunisch
©Katja Brandt
Woran erkenne ich, dass mein Kind zu wenig Bewegung hat?
Ein Bewegungsmangel fällt nicht vom Himmel. Oft genügt es schon, das Verhalten des Kindes zu beobachten, um festzustellen, ob ein Bewegungsdefizit vorliegt. Kinder, die sich zu wenig bewegen, ziehen sich mehr und mehr zurück. Sie sind freudlos, in sich gekehrt, teilweise apathisch. Im Extremfall können sich, in Verbindung mit Adipositas (Übergewicht), auch depressive Episoden zeigen. Finden Sie unbedingt heraus, welche Ursachen dahinter stecken. In unserem Buch „Kinder in Bewegung –100 Tipps gegen Bewegungsmangel und Fehlernährung“ erforschen wir genau das.
Eltern können Bewegungsstunden ihrer Kinder als feste Termine in ihrem Tagesplan integrieren
Wie viel sollten sich Kinder täglich bewegen?
Das Bundesministerium für gesundheitliche Aufklärung spricht Empfehlungen als Richtwert aus. Demnach sollten sich Kindergartenkinder mindestens 3 Stunden täglich bewegen. Grundschulkinder und Jugendliche sollten sich täglich mindestens 90 Minuten bewegen, davon mindestens 12.000 Schritte täglich gehen. Die Richtwerte finden Sie auf der Webseite in einer aktuellen Broschüre des Ministeriums. Um festzustellen, wie viel sich Ihr Kind tatsächlich täglich bewegt hat, empfehle ich den Einsatz von kleinen (kostengünstigen) Schrittzählern (bitte keine Smartphone App!), die in jede Hosentasche passen. 12.000 Schritte am Tag müssen erstmal geschafft werden. Liegt Ihr Kind dauerhaft deutlich darunter, sollten Sie überlegen, wie Sie Ihr Kind zu mehr Bewegung motivieren können.
Im Alltag haben Eltern, vor allem Alleinerziehende, viel um die Ohren. Wie lässt sich mehr Bewegung in den Alltag von Kindern bringen?
Die Bewegung eines Kindes sollte in der Priorität immer ganz weit oben stehen. Ein Videomeeting oder ein anderer wichtiger beruflicher Termin wird ja auch nicht mal „eben so“ verschoben. Es klingt vielleicht nüchtern: Aber Eltern können Bewegungsstunden ihrer Kinder als feste Termine in ihrem Tagesplan integrieren und gleichwertig zu eigenen beruflichen Terminen behandeln. Beispielsweise: „16:00-17:30 Uhr spielen auf dem Sportplatz mit meinem Kind.“ Wenn dies nicht geht, weil Eltern selbst keine Lust haben oder anderen Verpflichtungen nachkommen müssen, sollte immer eine Alternative organisiert werden, wie Sportverein oder Treffen mit anderen Kindern.
Warum mögen Kinder eigentlich riskante Bewegungs-situationen?
Ganz unbewusst benutzten Kinder eine Technik, die als eine der wirksamsten zur Behandlung von Angststörungen eingesetzt wird, die Verhaltenstherapie: Stelle dich der Gefahr, halte sie aus und wachse daran.
Kinder lernen, zum Beispiel beim Baumklettern, sich in kleinen Erfolgsschritten der „großen“ Angst zu nähern und sie zu überwinden. Werden solche vermeintlich gefährlichen Situationen ständig eingeschränkt, angstvoll kommentiert oder verboten, bleibt die Angst des Kindes bestehen. Ängstliche Eltern schaffen damit ängstliche Kinder, oder, so befürchten einige Wissenschaftler, sogar angstgestörte Kinder, die später zu angstgestörten Erwachsenen werden. Die norwegische Psychologin Ellen Sandseter beobachtete eine Vielzahl von Vorschulkindern beim Spielen und definierte 2007 sechs Bereiche, die von Kindern als besonders aufregend empfunden werden.
- große Höhe (wie Klettern, kopfüber herunterhängen, etc.)
- Hohe Geschwindigkeit (schnelles Laufen, mountainbiken, Seifenkistenrennen, etc.)
- wildes Toben und Raufen (kämpfen, rangeln, etc.)
- Nähe von Gefahrenstellen (steile Abhänge, Feuer, eisiges Wasser, etc.)
- Aufsichtsperson verlässt die Spielgruppe
- gefährliche Geräte (Beile, Messer, Sägen, etc.)
Mit den Jahren gewinnen wir an Erfahrung, damit aber auch, was die Fachwelt „Erfahrungsangst“ nennt. Kindergartenkinder besitzen diese logischerweise kaum. Unbekümmert leben sie im Augenblick, stimulieren ihr Gehirn und erwerben beim Spielen ganz nebenbei motorische, kognitive und soziale Fähigkeiten.
Wo und wie spielen Ihre Kinder?
Mit meinen beiden Kindern gehe ich regelmäßig auf einen Kinderspielplatz in einem nahegelegenen Wald. Am interessantesten sind dort nicht etwa die Spielgeräte, sondern vielmehr der steile Hügel zum Hinaufklettern und Herunterrutschen, das Sammeln von Stöcken und das Klettern auf Bäume. Ja, die Kleidung wird schmutzig – egal, es ist ein Zeichen für Spaß und Abenteuer.
Ob Individualsportart oder Mannschaftssport – an erster Stelle sollte immer der Spaß an der Bewegung stehen.
Können Eltern ein Vorbild in puncto Bewegung sein?
Kinder ahmen vieles nach, und so ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind sich oft und gerne bewegt höher, wenn ich mich selbst gerne und viel bewege. Die wohl wichtigste Botschaft in unserem Buch lautet, dass Eltern sich ihrer Rolle als Vorbilder für ihre Kinder immer bewusst sein sollten. In der Studie „Sportliche Eltern, sportliche Kinder“ (2012) wurde beispielsweise aufgezeigt, dass bei einer Mutter, die kein Interesse an Sport hat, das Kind nur zu 28 Prozent regelmäßig an sportlichen Aktivitäten teilnimmt. Treibt die Mutter wenigstens einmal die Woche Sport, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sportlich aktiv ist schon um mehr als das Doppelte auf 57 Prozent. Der Lebensstil vererbt sich sozial. Ein vorgelebtes, bewegungsfreudiges Leben der Eltern animiert Kinder verstärkt zu eigener Bewegung.
Haben Sie Tipps, um ein gutes Bewegungsvorbild zu sein?
- Lassen Sie sich öfter auf sportliche „Abenteuer“ mit Ihren Kindern ein, und helfen Sie ihnen dabei, ihren Bewegungsdrang zu stillen.
- Die Gesundheit Ihrer Kinder und die bewegungsorientierte Entwicklung kontinuierlich zu fördern, sollte stets oberste Priorität besitzen.
Das sind zwei von 100 Tipps gegen Bewegungsmangel aus unserem Buch. Zur Auswahl einer Sportart empfehle ich: Ob sich ein Kind am Ende für eine Individualsportart oder für eine Mannschaftssportart entscheidet, ist von sekundärer Bedeutung. An erster Stelle sollten immer der Spaß und die Freude an der Bewegung in der selbst gewählten Sportart stehen.
Worauf sollten Eltern bei der Auswahl eines Sportvereins achten?
In der Regel ist es Usus, dass Sportvereine kostenlose Probetrainings anbieten. Ansprechpartner und Kontaktdaten finden sich in den meisten Fällen über das Internet. Die folgenden Fragen helfen Eltern bei der Entscheidung „für oder gegen“ einen Vereinsbeitritt.
- Wie viele Kinder sind im Verein?
- Gibt es altersspezifische Gruppen, bzw. gibt es in den Gruppen Unterteilungen?
- Wie groß sind die einzelnen Gruppen?
- Wie gut sind die Übungsleiter ausgebildet?
- Verfügen die Übungsleiter über eine gültige Übungsleiter- bzw. Trainerlizenz?
- Werden gelegentliche Zusatzaktivitäten (z. B. Ausflüge) angeboten?
- Ist der Umgangston, sowohl von Übungsleitern, aber auch von anderen Kindern, freundlich?
- Wie abwechslungsreich, altersgemäß und spielerisch ist das Training?
- Macht der Trainer die Übungen (zum Nachmachen speziell für kleinere Kinder) vor?
- Gibt es klare Regeln und für Kinder verständliche Anweisungen?
- Behält der Übungsleiter den Überblick, speziell auch in Bezug auf weniger leistungsstarke Kinder in der Gruppe?
So geben wir Eltern als einen wichtigen Tipp in unserem Buch die Empfehlung, bei der Auswahl einer Sportart nicht den Förderaspekt in den Vordergrund zu stellen, sondern vor allem darauf zu achten, dass ihr Kind Spaß an der Bewegung und am Sport hat.
Was ist Ihr Motto zum Thema Bewegung?
Da gibt es zwei: „Wage den ersten Schritt, und ein Weg wird sich auftun“ und „Ohne Bewegung bewegt sich nichts“. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern und Kindern eine allseits gute Bewegung!